Das Kunstwerk
1988 / Harald K. Schulze
Boulevard-passanten
Harald K. Schulze
„Da hab‘ ich mir gesagt: ‚Nagut, biste Maler, bleibste Maler‘ und habe mir diese Aluminiumtafeln in meinen Bauernhof liefern lassen, in der Scheune aufgestellt und das Bild dann in aller Ruhe entwickelt, ohne dass ich irgendjemandem der Stadt, des Bezirks oder sonst jemandem einen Entwurf gezeigt hätte. Es gab nur die Erwartung, dass da was Figürliches passiert“
Wer bei DDR-Auftragskunst an Darstellungen des Arbeiter- und Bauernlebens oder des technischen Fortschritts denkt, dürfte beim Spaziergang durch die Große Scharrnstaße spätestens bei den „Boulevardpassanten“ stutzig werden. Das Wandbild von Harald K. Schulze ist nicht nur das schrillste, sondern auch eines der künstlerisch anspruchsvollsten Werke innerhalb des Scharrnstraßenprojekts.
Sich einer komplexen Bildsprache bedienend, zeigt das mehrteilige Gemälde eine bunte, großstädtisch anmutende Straßenszene, in der lebensgroße Figuren zu einer surrealen Komposition voller Details zusammengesetzt sind.
Ein Punk mit Peace-Zeichen, drei uniforme Beobachterfiguren, ein „West-Luftballon“: mit provokanter Motivauswahl, stilistischen Bezügen zum (Neo-)expressionismus und zwischen den Zeilen lesbarer Systemkritik sind die „Boulevardpassanten“ ein außergewöhnliches Beispiel für baubezogene DDR-Kunst der späten Achtzigerjahre.
Der Kontext
Die „Boulevardpassanten“ beeindrucken – durch ihre Bildsprache, die versteckten Provokationen, ihre Farben. Mindestens genauso interessant ist ihre Entstehungsgeschichte, die wertvolle Einblicke in die Planung und Umsetzung des Kunstprojekts Große Scharrnstraße gibt. Als systemkritischer Maler versuchte Schulze, seine Überzeugungen auf dem Bild widerzugeben, ohne aber dessen Veröffentlichung im prestigeträchtigen Projekt zu gefährden. Diese kurze Kontextualisierung zeigt, wie eng die sich 1988 bereits abzeichnenden politischen Risse des Systems auf Freiräume in der Kunst auswirkten und, dass ausgerechnet die eigensinnige Kunst aus der späten DDR-Zeit durchaus auch nach der Wende relevant blieb.
Als Harald K. Schulze vom zuständigen Stadtarchitekten Dr. Manfred Vogler gefragt wird, ob er ein Kunstwerk für den „Standort Eisdiele“ entwerfen würde, willigt er sofort ein. Ein Wandbild dieser Größe zu gestalten war zum einen finanziell vielversprechend, vor allem aber, wie er selbst sagt, „eine ganz ehrenvolle Sache“. Dass er den Auftrag trotz seiner kritischen Haltung erhält, liegt auch der künstlerischen Ausrichtung Schulzes, der sich seit seinem Studium in Berlin-Weissensee auf das Malen von Menschen konzentriert hat. Seine erste Idee für ein Sandsteinrelief verwirft er bald, denn sein Künstlerkollege und Projektnachbar Walter Kreisel hat bereits seine „Pferde“ aus Sandstein entworfen.
„Da hab‘ ich mir gesagt: ‚Nagut, biste Maler, bleibste Maler‘ und habe mir diese Aluminiumtafeln in meinen Bauernhof liefern lassen, in der Scheune aufgestellt und das Bild dann in aller Ruhe entwickelt, ohne dass ich irgendjemandem der Stadt, des Bezirks oder sonst jemandem einen Entwurf gezeigt hätte. Es gab nur die Erwartung, dass da was Figürliches passiert“
Schulze, der seit 1982 in Letschin im Oderbruch lebt, ist angesichts der ihm gewährten künstlerischen Freiheit im Scharrnstraßenprojekt selbst überrascht. Mit seiner Aktivität im Kollektiv Neon Real hat er sich längst einen Namen gemacht – und den Ruf, dem angestaubten Stil des sozialistischen Realismus bunte, veristische und durchaus kritische Großstadtästhetik entgegenzusetzen. Umso mehr weiß er das Vertrauen Voglers zu schätzen: „Er wusste, dass in meinen Bildern oft auch Attitüden und geistige Attentate steckten“. Dass sich der Stadtarchitekt selbst durchaus vor Behörden für den Auftrag rechtfertigen musste, erfährt Schulze erst im Nachhinein.
Als der Künstler 1988 seine „Querdenker“ malt, ist die Perestroika bereits in vollem Gange. Die demokratischen Öffnungen der DDR-Spätphase machen sich auch in den künstlerischen Freiräumen bemerkbar – und ein subversives Bild wie die „Boulevardpassanten“ schafft es bis in die Fußgängerzone. „In den 60er, 70er-Jahren wäre so ein Bild im öffentlichen Raum unmöglich gewesen.“, meint Schulze. Bunt wie das Treiben rund um den „Standort Eisdiele“ (im Erdgeschoss desselben Hauses), versucht der Künstler auf dem Wandbild lesbare Formulierungen zu finden, um den DDR-Alltag abseits von Konformität und Stagnation darzustellen und spielt dabei mit den Grenzen des zu dieser Zeit Darstellbaren.
„Die ‚Boulevardpassanten‘ ist eine aufgeladene Versammlung von Figuren, die die Leute lesen konnten. DDR-Bürger waren ja geschult, zwischen den Zeilen zu lesen und bestimmte Bilder zu deuten.“
Nur ein Jahr nach der Einweihung der verschönerten Großen Scharrnstraße brach das DDR-System zusammen und die Wende veränderte die Arbeitsumstände der Frankfurter Künstler*innen völlig. Für Schulze bedeutete die Wende jedoch, trotz anfänglicher Ungewissheit, sogar eine Verbesserung der Auftragslage.
„Ich hab‘ das Ganze natürlich auch bejubelt, es war richtig so. Aber nun mussten wir alle damit klarkommen und da gab es ganz merkwürdige Verunsicherungen und Gerüchte. Ich hatte allerdings wie immer ein bisschen Glück mit den Dingen, die ich vorher schon gemacht habe – meine Bilder hätten ja genauso gut auch in Westdeutschland oder sonst wo ausgestellt werden können, sie hatten ja keinen in dem Sinne festgelegten Charakter, der nur im Sozialismus oder in der DDR spielte.“
Seine Bildersprache und der künstlerisch ansprechende Stil kamen auch – oder gerade – außerhalb des DDR-Systems gut an. Schulze profitierte in der Zeit der Wende unter anderem vom Interesse westdeutscher Kunsthändler*innen, die sich vom Aufkauf bis dahin unbekannter DDR-Kunst auch einen finanziellen Jackpot erhoffen. „Es waren viele unterwegs, die dachten: nochmal richtig zuschlagen, ehe der große Run losgeht“, so der Künstler.
Für Harald K. Schulze, der mit seinem markanten Stil auch nach der politischen Wende als ein erfolgreicher und beliebter Maler galt, sind die „Boulevardpassanten“ ein wichtiger Bezugspunkt:
„Das Bild ist nach wie vor sehr wichtig für mich und meine Personen, die ich auch auf den Bildern immer irgendwie versammle und agieren lasse, meine Pappkameraden, haben sich eigentlich nicht verändert.“
Er bedauert den „Dornröschenschlaf“, in den die Große Scharrnstraße seit den 90er-Jahren gefallen, und aus dem sie seitdem nicht mehr so recht aufgewacht ist. Umso mehr freut er sich über die Sanierung und die damit verbundene indirekte Aufwertung seines Bildes. Dieses “muss einfach restauriert werden”, sagt er hoffnungsvoll in Erwartung des Sanierungsprojektes.